Gefühle haben wichtige Funktionen
Jedes Mal, wenn wir in eine neue Situation geraten, wissen unsere Gefühle ziemlich schnell, was sie davon halten. Denn wir interpretieren sie: Wut, dass etwas “falsch” ist, Trauer, dass es “schade” ist, Angst, dass es “furchtbar” ist und Freude, dass es “richtig” oder “schön” ist. Scham hingegen, wird ausgelöst durch den Gedanken, dass ich selbst vielleicht falsch bin. Diese Grundinterpretationen sind wie Knöpfe in unserem Kopf, die wir bedienen und dadurch Gefühle erzeugen. Dieser Prozess ist uns in der Regel nicht bewusst.
Im Alltag erscheinen uns unsere Gefühle oftmals weniger eine Orientierungshilfe als eher unangemessen zu sein. Warum wir sie haben, können wir uns dann selbst nicht erklären. Ein Grund dafür könnte sein, dass sie auf den ganz frühen Erfahrungen aus unseren ersten Lebensmonaten und -jahren basieren. Unsere Gefühle sind älter als unsere bewussten Erinnerungen. Und sie sind schneller. Gefühle sind bereits da, bevor wir überhaupt denken können. Berühmt wurden die Versuche des US-Physiologen Benjamin Libet, die zeigen, dass das motorische Zentrum des Gehirns mit der Vorbereitung einer Bewegung bereits begonnen hat, bevor man sich dessen bewusst wird. Libet schloss daraus, dass dem bewussten Verstand nur ein kurzes Zeitfenster bleibt, indem es die bereits unbewusst eingeleitete Handlung stoppen könnte. Dem Verstand könnte bei vielen Handlungen lediglich eine Art Veto-Funktion übrigbleiben.
Statt unsere Gefühle zu leugnen, sollten wir uns ihnen also stellen. Ein erster Schritt ist, sie überhaupt zu erkennen. Denn oft wissen wir nicht einmal, dass wir ein bestimmtes Gefühl erleben. Wir unterdrücken es, bewusst oder unbewusst. Das betrifft vor allem Gefühle, die als besonders verpönt gelten, wie etwa Neid, Eifersucht oder Zorn. Sogar positive Gefühle wie Freude oder gute Laune haben viele Menschen gelernt abzuwehren.
Doch diese Gefühle gehören zum Leben dazu, wir sollten sie zuzulassen. Wenn man sie unterdrückt, kommen sie an anderer Stelle wieder hoch. Schon allein dadurch, dass man sich sagt, „gut, dann bin ich jetzt eben mal wütend oder eifersüchtig“, lässt sich ein negatives Gefühl besser ertragen.
Gefühle helfen uns Entscheidungen zu treffen
Unser emotionales Erfahrungsgedächtnis ist unser wichtigstes Bewertungssystem, wie der Neurowissenschaftler Gerhard Roth meint. Haben wir schon einmal etwas ähnliches erlebt? Und wie haben wir es abgespeichert, eher als gut, vorteilhaft und lustvoll? Oder eher als schlecht, nachteilig oder sogar schmerzhaft? Im Gedächtnis bleibt das Erlebnis mit dem jeweiligen Gefühl verbunden. Bevor wir uns bewusst erinnern können, ruft das Gehirn die damaligen Emotionen wieder hervor. Wir fühlen uns gut, wenn wir die vergleichbare Erfahrung positiv abgespeichert haben. Dagegen warnt uns ein schlechtes Gefühl, wenn wir an negative Erfahrungen erinnert werden.
Ohne diese Gedächtnishilfe wären wir ziemlich orientierungslos, betont auch der Neurologe Antonio Damasio in seinem Buch „Descartes Irrtum “. Er beschreibt darin Menschen, die durch lokale Hirnschäden die Fähigkeit verloren haben, Gefühle zu empfinden. In der Folge werden sie gleichgültig. Sowohl ihr Gedächtnis als auch ihr Urteilsvermögen sind eingeschränkt. Auch die Gefühle anderer Menschen können sie nur noch schwer verstehen. Hier ist ein Umdenken gefordert: Viel zu lange haben wir rationale Entscheidungen allein dem Verstand zugeordnet. Tatsächlich hängen sie auch von unseren Gefühlen ab.
Wie geht man am Besten mit Gefühlen um?
Was tun, wenn einen sehr starke Emotionen überkommen? Einfach alles rauslassen, wie es Therapeuten vor allem in den 70ziger Jahren empfahlen? Lieber nicht, meint das Psychiater-Duo François Lelord und Christoph André. Wer vor Wut ein Kissen prügelt oder ordentlich flucht, der verstärke nur seine Wut. Auch Traurigkeit ließe sich nicht einfach wegweinen. Weinen verstärke den Kummer. Helfen könne es lediglich, wenn man dabei ein tröstendes Gegenüber habe. Wichtig ist es daher vor allem die Wahrnehmung der eigenen Emotionen zu üben. Etwa, indem man auf die Signale des Körpers achtet. Herzschlag, Muskelspannung, Schmerzen – wie eine Warnanlage informiert uns unser Körper über unsere Gefühle. Ein anderer Tipp von Lelord und André: Führen Sie Tagebuch! Denn Menschen, die schmerzliche Ereignisse und ihre Gefühle niederschreiben – oder drüber sprechen – können das Erlebte besser verstehen und meistern.
Nicht nur die eigenen Gefühle, sondern auch die der anderen können wir lernen, besser wahrzunehmen. Wer Empathie trainieren möchte, sollte etwa bewusst das Gesicht des Gegenübers beobachten, wo sich vielleicht nur für einen kurzen Moment dessen wahre Gefühle zeigen. Viel zu oft sind wir mit uns selbst und unseren Argumenten beschäftigt, statt auf die Reaktionen des anderen zu achten. Eine andere Möglichkeit, dem Gegenüber näher zu kommen: dessen Standpunkt oder Gefühle mit eigenen Worten zu formulieren.
Es lohnt sich, die „Macht der Gefühle“ anzuerkennen und ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Wer Emotionen besser erkennt, kann schließlich auch gelassener mit ihnen umgehen, bei sich selbst und anderen Menschen.
Die fünf Grundgefühle
Der Gefühlskompass ist ein innerer Navigator, der uns in den Stürmen des Lebens Halt und Orientierung bietet. In ihm sind die vier Grundgefühle angeordnet — Wut, Trauer, Angst und Freude. In der Mitte des Kompasses, befindet sich das fünfte Gefühl, die Scham. Sie unterscheidet sich von den vier äußeren Gefühlen darin, dass sie sich nach innen richtet, also auf uns selbst. Bei diesen fünf Grundgefühlen handelt es sich nicht um eine willkürliche Auswahl. Vielmehr befähigen uns diese Gefühle in ihrer Kombination, mit allen Situationen im Leben angemessen umzugehen.
Wut: klare Positionierung
Wut ist ein Gefühl, das immer dann auftritt, wenn uns etwas gegen den Strich geht. Wut ist dann ein richtig gutes Gefühl, wenn wir genau wissen, was uns nicht passt und es auch in unserem Einflussbereich liegt, es zu verändern. Ein Beispiel: Ich komme nach Hause und stelle fest, dass der bestellte Pullover in der falschen Größe geliefert wurde. Die richtige Dosis Wut gibt mir genau das richtige Maß Energie, um mich beim Versandhaus zu beschweren, das Ding wieder einzupacken und auf den Rückweg zu schicken. Sehr praktisch. Richtig unpraktisch ist Wut hingegen dann, wenn ich an einer Situation nichts ändern kann. Etwa wenn ich mein Handy verloren habe oder mein Lieblingspullover ein Loch bekommen hat. Oder wenn der Kollege zum ixten Mal die Deadline nicht eingehalten hat. Hier brauchen wir andere Gefühle — zum Beispiel Trauer.
Trauer: Annehmen, was ich nicht ändern kann
Im Gegensatz zu Wut versetzt Trauer uns nicht in Handlungsbereitschaft, sondern sie lässt uns zur Ruhe kommen. Trauer ist ein Gefühl, das zwar auch auftritt, wenn etwas nicht so ist, wie wir es gerne hätten. Sie ist jedoch dazu da, uns zu helfen, diese Tatsache anzunehmen, statt sie zu verändern. Eben wenn mein Lieblingspullover ein Loch bekommen hat oder mein Handy weg ist. Und natürlich auch, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist — oder ein Kollege, den man richtig gerne mag, die Firma verlässt. Trauer hilft uns, mit all jenen Situationen angemessen umzugehen, die uns zwar nicht gefallen, die wir jedoch nicht ändern können. Dafür ist Trauer das richtige Gefühl. Es gibt allerdings auch Situationen, die wir weder annehmen noch verändern können. Hier braucht es nochmal ein anderes Gefühl — zum Beispiel Angst.
Angst: sich auf das Unbekannte einlassen
Dieses Gefühl mag keiner haben: Angst. Sie steht für Lähmung, Handlungsunfähigkeit, Ausgeliefertsein und Ohnmacht. Doch auch Angst ist ein Gefühl, das nicht entstanden ist, um uns das Leben schwer zu machen, sondern erfüllt eine wichtige Funktion. Auch Angst ist eine Kraft, wenn wir wissen, wie wir sie nutzen können. Da Angst in Situationen auftritt, die wir weder annehmen noch verändern können, ist Angst ein Signal für das Unbekannte. Das Vertraute versagt hier, es kann nur etwas komplett Neues geschehen. Dieses Unbekannte kann eine Gefahr bergen, es kann aber auch eine große Chance sein. Fakt ist, wir wissen es nicht, bis wir uns darauf einlassen. Genau hierbei hilft uns Angst. Sie ist ein Signal für die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Und sie kann uns über diese Grenze tragen.
Scham: sich selbst in Frage stellen
Manchmal ist es auch an der Zeit, sich selbst in Frage zu stellen. Hierbei ist ein weiteres, zuweilen unbeliebtes Gefühl, von zentraler Bedeutung: die Scham. Sie lässt uns in den Spiegel unserer eigenen Werte blicken und fordert uns auf, zu überprüfen, inwieweit wir unseren Überzeugungen treu sind. Scham ist der Blick nach innen. Haben wir den prüfenden Blick erst auf uns selbst gelenkt, können wir dann jedes andere Gefühl auch auf uns selbst anwenden: die Wut, wenn wir uns einfach mal einen Ruck geben müssen, die Trauer, wenn es gilt, Anteile anzunehmen, auch wenn sie uns nicht gefallen oder die Angst, wenn wir Aspekten ins Auge sehen, mit denen wir nicht umzugehen wissen. Und natürlich können wir auch Freude empfinden über das, was wir dort entdecken: vielleicht halten andere etwas an uns für falsch, aber wir stehen dazu!
Freude: wertschätzen, was mir gefällt
Auch im Außen gilt Freude jenen Dingen, die wir als richtig empfinden oder beurteilen. Deshalb ist sie auch das einzige Gefühl im Kompass, das wir als positiv einordnen: Nur die Freude gilt Umständen, die unseren Bedürfnissen entsprechen! Jedes der anderen Gefühle gilt hingegen Situationen, die anders sind, als wir sie gerne hätten. Freude ist Wertschätzung. Sie sagt: Das gefällt mir! So will ich es haben! Das habe ich mir gewünscht! Doch nicht immer empfinden wir Freude, wenn etwas so ist, wie wir es haben wollen. Allzu oft nehmen wir etwas für selbstverständlich und versäumen es, das weiche Bett, das erfolgreiche Projekt, das leckere Abendessen als Anlass zur Freude zu nehmen.
Vorsicht Schattengefühle
Besonders problematisch sind Gefühle, wenn sie sich nicht als positive Kräfte zeigen, die eben genau das sind, was wir in der jeweiligen Situation brauchen, sondern in ihrem Schattenausdruck. Um es konkret zu machen: statt für Klarheit zu sorgen, wird Wut in ihrem Schattenausdruck zerstörerisch — ein Phänomen, das wir alle irgendwo schon mal erlebt werden. Trauer hingegen führt in ihrem Schattenausdruck nicht zu positiver Annahme der Situation, sondern zu depressiver Passivität. Angst ist ganz und gar nicht schöpferisch, wenn sie sich in ihrem Schatten zeigt. Im Gegenteil: Sie lähmt uns wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Scham in ihrem Schattenausdruck unterstützt uns nicht in einer gesunden Selbstreflexion, sie verleitet uns vielmehr dazu, kein gutes Haar mehr an uns zu lassen. Wir zerfleischen uns buchstäblich mit Selbstvorwürfen. Überraschend dürfte für die meisten Menschen sein, dass auch unser Lieblingsgefühl Freude nicht nur positiv ist. Auch sie hat einen Schattenausdruck: die Illusion. In dieser Form lässt sie uns tatsächlich den Boden unter den Füßen verlieren. Wir reden uns Dinge schön, die eigentlich dringend der Aufmerksamkeit einer anderen Gefühlskraft bedürften.
Autorin: Fiona Lanfranconi
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